Ausgabe Juli-August 2023

Ökologisches Tanzen

Natur als weit und unbegreiflich. "Telos" von Sandra Man. Foto: Sandra Man

Die Choreografin und Autorin Beatrix Joyce geht der Frage nach, wie Tanzkünstler*innen auf die aktuelle Klimakrise reagieren. Ihre Beobachtungen spannen einen Bogen von romantischen Naturmotiven der Sicherheit und des Friedens, über dystopische Science-Fiction-Erzählungen bis hin zu fantastischen Zukunftsvisonen von gleichberechtigten Gemeinschaften aller Lebensformen.

Text: Beatrix Joyce

 

"Und vielleicht leben wir in einem Zeitalter des Massensterbens."

So betitelt der zeitgenössische Denker und Ökologiephilosoph Timothy Morton das erste Kapitel seines Buches Being Ecological (2018). Seine Aussage kommt zur rechten Zeit: Unser Einfluss auf den Planeten ist mit der Benennung unseres aktuellen Zeitalters als Anthropozän[1] offiziell geworden und wohl nicht mehr umkehrbar. Wir leben in einer Zeit der Klimakrise und der planetarischen Umwälzung, in der die Spuren unseres Handelns in den Boden geätzt sind und die Folgen unseres Verhaltens, unserer Systeme und unserer Infrastrukturen immer näher rücken. Als Spezies sind wir an einem Punkt angelangt, an dem es nicht mehr unvernünftig ist, unser eigenes Aussterben vorherzusagen. Eine ziemlich düstere Realität, die es zu bewältigen gilt.

Aber wie ist eine Zukunft ohne uns vorstelllbar? Wird alles andere bis in die Ewigkeit fortbestehen, während wir wie ein kleiner Fleck auf der sich hinziehenden Zeitachse des Universums verschwinden? Tanzkünstler*innen haben sich diese Fragen ebenso gestellt und sich von zeitgenössischen Denker*innen inspirieren lassen, die ein neues Verständnis unseres Planeten anstreben. Morton fordert zusammen mit Donna Haraway (Staying with the Trouble, 2016) und anderen eine neue Art des ökologischen Denkens, die nicht den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Es ist eine Denkform, die unsere Umwelt einschließt und dabei andere Lebensformen, Wesen und Entitäten, die unsere Welt ausmachen, anerkennt und feiert. Die auf die gegenwärtige Krise mit erweiterten Wahrnehmungsmethoden reagiert und mit unserer Umgebung in Beziehung tritt, ohne sie erklären zu müssen. Es geht darum, das Suchen nach Wahrheiten zu verlieren, zu denen auch jene verkürzte Fakten (‚Faktoids‘)[2] darüber gehören, wie viel Schaden wir angerichtet haben oder wann der Zustand des Planeten außerhalb ‚unserer Kontrolle‘ kippen wird. Stattdessen gilt es, das zu umarmen, was wir bisher für selbstverständlich gehalten haben – das, was nicht wir sind.

Ähnlich wie die Entdeckung, dass die Sonne nicht uns umkreist sondern umgekehrt, scheint die Verlagerung unseres Denkens nach außen ein guter Plan zu sein. Für viele Tanzkünstler*innen in Berlin und darüber hinaus ist dies ein inspirierender Ausgangspunkt. Er führt aber auch zu einigen heiklen Dilemmata. Wenn wir das Menschliche entfernen, bleibt uns sofort alles andere: das Nicht-Menschliche. Das Nicht-Menschliche scheint ein Oberbegriff für ein eher vages Verständnis aller Wesen zu sein, die außerhalb von uns liegen: Pflanzen, Tiere, Steine, Pilze, Bakterien... Aber auch Löffel, Smartphones und, wenn man so will, Aliens... Die Liste geht weiter. Der Begriff nicht-menschlich ist vielleicht nicht so nützlich, wie wir es uns erhoffen, denn er ist zu allgemein, um sich mit Spezifischem zu befassen. Nichtsdestotrotz wird der Begriff häufig verwendet und wurde von der Tanzwelt übernommen, um ein Gefühl für etwas zu vermitteln, das nicht wir sind, dem wir uns aber irgendwie annähern wollen.

Der Begriff nicht-menschlich wird derzeit am häufigsten im Zusammenhang mit der natürlichen Welt verwendet. Natur. Ein Begriff, der vielleicht noch schwieriger zu fassen ist, da er im Laufe der Geschichte in verschiedenen Kulturen und Kontexten viele unterschiedliche Bedeutungen hatte. Insbesondere indigene Sichtweisen und Philosophien unterscheiden sich grundlegend von den westlichen Vorstellungen von Natur. Dennoch gibt es eine Version von Natur, die in aktuellen Tanzwerken immer wieder auftaucht. Üppige Wälder, grüne, offene Felder, sonnengeküsste, sanfte Hügel... Eine sanfte Sommerbrise, summende Hummeln, zwitschernde Vögel. Was wir hier haben, ist das Pittoreske. Morton beschreibt es wie folgt:

"Im Pittoresken ist die Welt so gestaltet, dass sie wie ein Bild aussieht – als ob sie bereits von einem Menschen interpretiert und verpackt worden wäre. Es lässt sich leicht erkennen, was was ist: Da drüben ist ein Berg, ein See, vielleicht ist ein Baum im Vordergrund. Lustigerweise ist das klassische pittoreske Bild, das ich gerade beschrieben habe, im Durchschnitt das Lieblingsbild des Menschen – und vielleicht ist diese Allgegenwärtigkeit der Grund, warum viele Menschen dieses Bild auch als kitschig oder offensichtlich empfinden." (Being Ecological, 2018, S. 24)

Die Natur in Form des Pittoresken stellt eine Art von Natur dar, die uns Menschen ein Gefühl der Sicherheit, des Komforts und des Friedens vermittelt. Aber auch ein Gefühl von Freiheit und Hingabe: So können wir uns von den Zwängen der Gesellschaft befreien und für einen Moment in ihrem Wunder und ihrer Schönheit schwelgen. Dieses Ideal schafft durch eine einseitige Betrachtungsweise der Natur eine Distanz zwischen uns und ihr und stellt eine Trennung wieder her, die der Trennung zwischen Geist und Körper im Sinne von Descartes aus dem 17. Jahrhundert ähnelt. Sie ist nicht wir und wir sind nicht sie. Aber sie ist für uns da, und wir können sie genießen, wann immer wir wollen.

Einige Tanzkünstler*innen nähern sich der Natur durch die Linse des Pittoresken. In ihren Werken verschwindet die Natur, die uns sonst so viel Freude bereitet. Sie fordern uns auf, an all die sonnigen Nachmittage im Wald zu denken und daran, dass sie vielleicht gezählt sind. Wir werden nostalgisch, und das zu Recht. In der Tat gehen die Wälder, wie alles andere auch, zugrunde, was ein Problem darstellt, das Aufmerksamkeit verdient. Wenn wir die Natur jedoch nur über das Pittoreske betrachten, werden andere Aspekte der Natur, die uns zu komplexeren Überlegungen zwingen, ignoriert: Schlangenbisse, giftige Beeren, ein neugeborenes Lamm, das von seiner Mutter zurückgewiesen wird. Das ist hart, aber wahr. Die Natur birgt seit jeher Gefahren für uns, und uns vor diesen Gefahren zu schützen, hat beim Aufbau unserer Gesellschaften eine entscheidende Rolle gespielt.

Dennoch ist es nicht verwunderlich, dass sich Tanzkünstler*innen zum Pittoresken hingezogen fühlen: Aus der Perspektive einer westlichen Großstadt im Jahr 2023 beschränkt sich die Naturerfahrung auf den Wechsel des Wetters und einen gelegentlichen Ausflug aufs Land oder mit Glück in einen örtlichen Kleingarten. Es fühlt sich an, als lebten wir im Pittoresken: Die Natur ist zahm und unter Kontrolle. Bis... eine Naturkatastrophe zuschlägt. Erdbeben, Wirbelstürme, Tsunamis, Überschwemmungen, Dürren, Waldbrände... Diese katastrophalen Ereignisse prägen unsere täglichen Nachrichten, selbst wenn wir in unserer unmittelbaren Umgebung sicher zu sein scheinen. Und wir können es spüren: Wo immer wir uns auf dem Planeten befinden, kann sich die Natur innerhalb eines Wimpernschlags gegen uns wenden.

Dieser Gedanke inspiriert Künstler*innen seit Langem und prägt unsere Vorstellungskraft, insbesondere in Form eines beliebten Genres: der dystopischen Science-Fiction. In einer nahen oder fernen Zukunft läuft die Natur, oft in Verbindung mit Technologie, Amok. Die orangefarbene Skyline von Blade Runner (1982) oder die grünliche Tönung von The Matrix (1999) bilden eine Kulisse, in der die Umwelt rau und tödlich geworden ist und der Mensch handeln muss, um zu überleben. Dieses düstere Zukunftsbild unserer Welt und die technoinduzierte Ästhetik hat sich auch der Tanz auf spannende Weise zu eigen gemacht. Von aufwändigen körperverändernden Kostümen bis hin zu raumgreifenden Bühnenbildern durchstreifen die Tänzer*innen dunkle und verschwommene Zukunftslandschaften, in denen das Künstliche und das Natürliche aufeinanderprallen. Die Natur ist hier irgendwo zwischen völlig abwesend und unerkennbar und weist uns darauf hin, wo wir landen könnten – oder werden.

Am anderen Ende des Spektrums steht jedoch eine ebenso fantastische, utopische Zukunftsvision: Wie würde die Gesellschaft aussehen, wenn wir sie neu gestalten? Cornucopia (2019), Björks Konzerttournee und erste Bühnenproduktion, hat alles daran gesetzt, die denkbar fantastischste Björk-Utopie zu erschaffen – mit einer Truppe von Flötenfeen, explodierenden Blumenbildern und glühenden Pilzplattformen. Ihrem einzigartigen Musikstil und isländischen Wurzeln treu bleibend, inszeniert Björk einen Ort, an dem alle Wesen in Harmonie mit der Natur koexistieren können. In ähnlicher Weise erforschen Tanzkünstler*innen Utopien dieser Art, indem sie sich auf die Beziehungen zwischen den Menschen konzentrieren. Indem sie nicht-konforme Gemeinschaften und Kollektive bilden, diversifizieren sie die Wertschätzung für andere Körper und Wesen und entfachen ein vertieftes Bewusstsein für unsere Umgebung. Sie lassen sich oft von feministischer Science-Fiction inspirieren, die unter anderem von Marge Piercy, Ursula K. Le Guin und Octavia E. Butler stammt, und schreiben düstere Zukunftserzählungen um, indem sie Gefühle der Freude, Verbundenheit und Zugehörigkeit entgegensetzen.

Mit der Erforschung verschiedener Varianten des Utopischen und Dystopischen, schwankend zwischen Hoffnung und Verzweiflung, entwerfen Tanzkünstler*innen Zukunftsvisionen für uns und unsere Welt. Bei der Entwicklung dieser Szenarien haben sie sich oft von der Natur inspirieren lassen: von den Rufen ausgestorbener Tiere, den Myzelnetzen von Pilzen, verlassenen Industriegeländen oder dem Mikrobiom, das unsere Lungen bewohnt. Die Natur ist unweigerlich ein Teil von uns. Und wir – als Körper, Mikrobiom, Masse – sind ein Teil von ihr. Neue Forschungen zeigen, dass wir keine singulären Wesen sind. Unser Körper besteht aus Tausenden von Lebewesen. So werden wir zu dem, was wir pflanzen, was wir säen, was wir essen. Wenn wir also beginnen, uns die Natur nicht wie in der Malerei als ein separates Wesen vorzustellen, sondern als etwas, das wir nicht von uns selbst trennen können, wie könnten wir uns ihr dann nähern? Wie könnten wir uns verbinden, vielleicht sogar kommunizieren?

Die menschliche Kommunikation ist stark von Sprache geprägt. Lange Zeit wurde angenommen, dass die Entwicklung der Sprache zusammen mit dem menschlichen Bewusstsein das ist, was uns von Tieren unterscheidet. Jüngsten Forschungsergebnissen zufolge ist Sprache jedoch nicht nur eine menschliche Fähigkeit. Von Buckelwalen wird beispielsweise angenommen, dass sie mit Lauten und Gesang Sätze bilden. Obwohl wir Muster erkennen können, verstehen wir immer noch nicht, was sie sagen wollen. Das Gleiche gilt für die Tiere in unseren Gärten, von Vögeln und Hunden bis hin zu Bienen und Heuschrecken. Das heißt nicht, dass wir nicht mit Tieren kommunizieren können: Viele Hundebesitzer*innen könnten das Gegenteil beweisen. Mit ein wenig dichterischer Freiheit könnte man diesen Begriff auch auf Bäume, Gras und Flüsse ausdehnen. Auch sie sprechen eine Sprache, die wir nicht verstehen.

Aber vielleicht geht es gar nicht so sehr um das Was, sondern eher um das Wie. Wie wir aus täglicher Erfahrung wissen, hängt die zwischenmenschliche Kommunikation nicht nur von der Aneinanderreihung zusammenhängender Sätze ab, sondern auch von Körpersprache, Mimik, emotionalen Untertönen in der Stimme und dem Rhythmus der Sprecher*innen. Nicht zu wissen, was ein*e Gesprächspartner*in zu sagen oder nicht zu sagen versucht, selbst wenn er*sie deutlich spricht, ist eines der Übel und Geschenke des Menschseins. Um zu kommunizieren, stützen wir uns nicht nur auf die Sprache, sondern auch auf unsere Sinne, unsere Bewegungen, unsere Erinnerungen, unsere Wahrnehmung. All diese Mittel werden uns durch den Körper zur Verfügung gestellt.

Auf der Suche nach alternativen Möglichkeiten, sich mit der Natur zu verbinden, haben sich Tanzkünstler*innen in die Natur begeben und verschiedene Praktiken mit Bewegung, Gesten und den Blick auf die Natur entworfen. Mit diesen einfachen Mitteln und mit choreografischen Werkzeugen wie Nachahmung und Verkörperung, Einstimmung und Resonanz nehmen sich Tanzkünstler*innen Zeit, um die Natur zu beobachten, ihr zuzuhören, und um mit ihr und in ihr zu sein. Indem sie sich in das verworrene Netz des ökologischen Denkens verstricken, erzeugen sie ein neues Gefühl der Empathie gegenüber unserer Umwelt. Vielleicht ist es unsere menschliche Fähigkeit zur Empathie und Vorstellungskraft, die uns den Zugang zu sonst unzugänglichen natürlichen Welten ermöglicht. Wie der indigene Wissenschaftler Robin Wall Kimmerer schreibt:

"Ich wünschte, ich könnte wie eine zottelige Zeder stehen, während der Regen in meine Rinde sickert, damit das Wasser die Barriere zwischen uns auflösen kann. Ich möchte fühlen, was die Zedern fühlen, und wissen, was sie wissen." (Braiding Sweetgrass, 2013, S. 295)

Fühlen, spüren, mit der Natur und dem Nicht-Menschlichen sein. Tanz kann durch die Arbeit mit der materiellen Welt des Körpers, der Sinne, der Zeit und des Raums Türen zu anderen Realitäten und Perspektiven öffnen. Kann er also sogar eine Welt gestalten, in der wir nicht vorkommen? Wenn wir uns eine Zukunft oder irgendetwas anderes vorstellen, kommen natürlich unsere Ideen und Visionen ins Spiel. Wenn wir uns das Nicht-Menschliche vorstellen, können wir unserem menschlichen Blickwinkel nicht entkommen, denn wir sind immer noch da und bestimmen die Vorstellung. Aber durch die Arbeit mit Bewegung, einem grundlegenden Prinzip, das sich durch alles Leben auf der Erde zieht, kann der Tanz vielleicht dazu beitragen, den Blickwinkel zu verändern.  Oder er kann uns für einen flüchtigen Moment etwas anderes als das ‚nur Menschliche‘ bieten, während wir uns mit unserem nahenden Ende auseinandersetzen.

 

TANZKÜNSTLER*INNEN, DEREN WERKE DIESEN ESSAY INSPIRIERT HABEN:

Sergiu Matis, Maija Hirvanen, Sandra Man, Eva Meyer-Keller, Michela Filzi, Jared Gradinger, Angela Schubot, Thiago Granato, Florence Freitag, Milla Koistinen, BAG collective, Moritz Majce, Claire Vivianne Sobottke, Lena Gätjens, Agata Siniarska, Lena Binski

 


[1] Das Anthropozän ist der Vorschlag eines geologisches Zeitalters, das mit dem Zeitpunkt beginnt, an dem der Einfluss des Menschen auf die Geologie und die Ökosysteme des Planeten sichtbar wurde. Das Wort "Anthropo" stammt aus dem Altgriechischen anthrōpos und bedeutet "Mensch".

[2] Ein ‚Factoid‘ ist ein von Timothy Morton verwendeter Begriff, der sich auf Binsenweisheiten oder Aussagen bezieht, die scheinbar Fakten sind und von den Medien häufig im Zusammenhang mit der Klimakrise verwendet werden.

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