Ausgabe Juli-August 2024

„Die Magie passiert wenn du in der Lage bist dich mit den Menschen um dich herum zu synchronisieren“

Milla Koistinen in "Breathe", 2021. Foto: Dajana Lothert

Was hat Tanz mit Fußball gemeinsam? tanzraumberlin-Redakteurin Johanna Withelm spricht mit der Choreografin Milla Koistinen und dem Taktiktrainer der Juniorenabteilung von Hertha BSC (ab 1. Juli 2024 Leiter der Nachwuchsabteilung von Borussia Dortmund) Thomas Broich über die Arbeit mit Struktur und Chaos, über die Bedeutung von Schwarmintelligenz und Synchronisation und darüber, wie Vertrauen und Zugehörigkeit aber auch unvorhergesehene Regelbrüche den Zauber beider Disziplinen ausmachen – auf der Theaterbühne wie auf dem Fußballfeld.

Interview: Johanna Withelm

 

Milla, was hat dich motiviert, dein Solo Breathe (Uraufführung in 2021) auf einem Fußballplatz aufzuführen?

Milla Koistinen: Ich habe über kollektive Freude, Euphorie und Ekstase nachgedacht, das war der Ausgangspunkt für das Stück. Als ich meine Eltern besucht habe, die in einem kleinen Dorf im Norden Finnlands leben, und dort auf einem völlig leeren Fußballplatz stand, war die Erinnerung an die Euphorie und die kollektiven Versammlungen greifbar und es fühlte sich wie ein aufregender Ort an, um etwas zu schaffen. Während der Stückentwicklung sprachen wir auch viel über das Spielfeld als einen ziemlich männlichen, geometrischen Raum. Und wir haben uns gefragt, wie wir das also brechen können – mit der Bewegung, dem Material der Objekte und all dem. Vielleicht indem wir den Raum mit etwas Weicherem besetzen.

Hast Du selbst eine Verbindung zum Sport oder zum Fußball?

MK: Ich stamme aus einer sportlichen Familie. Mein Vater war in seiner Jugend auch Fußballspieler, meine beiden Eltern waren Sportlehrer*innen. Es ist also sehr präsent in mir. Und ich mag es, dass der Geist einer Sportlerin und der einer Künstlerin sich einmischen und zusammenkommen.

Thomas, du bist Taktik- und Methodiktrainer im Fußball. Was interessiert dich an Taktik?

Thomas Broich: Es geht darum, Lösungen als Gruppe zu finden. Fußball kann sehr chaotisch sein und man wird oft auf sich selbst zurückgeworfen, aber in gewisser Weise haben wir eine ganz eigene Choreografie. Wir müssen uns wie ein Schwarm bewegen und es geht darum, vorauszudenken, auf einer Wellenlänge zu sein und durch dieselbe Brille zu schauen. Wenn wir uns der Schwächen und Stärken der anderen Seite bewusst sind, können wir Lösungen finden, die sehr nah an Perfektion kommt.

Würdest Du deine Arbeit in gewisser Weise als kreative oder künstlerische Arbeit betrachten?

TB: Fußball ist ein sehr kreativer Sport für mich. Das Spielfeld ist riesig und die Aufgabe besteht darin, den Ball mit den Füßen zu kontrollieren. Das ist unglaublich schwierig, wir müssen immer wieder sehr kreative Lösungen finden. Ich denke, dass der Umgang mit dem Ball eine Fähigkeit, eine Kunst für sich ist. Und diesen Sport kollektiv auszuüben, ist wirklich anspruchsvoll und lohnend zugleich. Auch der Zeitaufwand ist ähnlich – die Stunden, die wir investieren müssen, um Expert*innen zu werden, und die Art und Weise, wie wir unseren Körper und unsere Einstellung trainieren, viele theoretische Informationen aufnehmen. Das ist eine sehr umfassende, ganzheitliche Sache. Und ja ich weiß, am Ende ist es hauptsächlich Sport, es ist immer noch einfach Fußball. Aber ich denke, wenn man ein bisschen tiefer eintaucht, geht es auch um künstlerische Dinge. Es ist etwas anderes als Kunst, klar, aber ich würde definitiv sagen, dass künstlerische Elemente Teil des Fußballs sind.

In der Sportpresse finden sich in Bezug auf Fußball oft Vergleiche mit Tänzer*innen ...

TB: Es geht darum, seinen Körper zu beherrschen, jederzeit das Gleichgewicht wechseln zu können, einen sehr niedrigen Schwerpunkt zu haben, fast über dem Spielfeld zu schweben. Du musst dich die ganze Zeit auf den Zehenspitzen bewegen. Mit platten Füßen kannst du nur langsam reagieren. Es muss also „tänzerisch“ sein, und wir verwenden auch diese Begriffe, wenn wir Kinder trainieren.

Ich denke, dass die Arbeit mit Struktur und Chaos etwas ist, das Tanz und Fußball gemeinsam haben. Wie beeinflusst dies eure Arbeit als Choreografin und als Fußballtrainer?

MK: In meiner Arbeit wird die Struktur verkörpert, ähnlich wie die Bilder, mit denen ich arbeite. In Breathe haben wir mit Standbilder von Fußballspieler*innen in Bewegung gearbeitet, aber auch mit anderen Bildern wie von Rockkonzerten oder historische Bilder von kollektiven Versammlungen. Ich habe einige Arbeiten produziert, in denen sich das Publikum frei bewegen kann. Was die Leute entscheiden zu tun und wie sie sich verhalten, beeinflusst natürlich das Stück – es ist ein Element, das den Raum komponiert und den Zufall ins Spiel bringt. In Breathe und auch in der Gruppenarbeit Magenta Haze habe ich eine Reihe von riesigen, mit Luft gefüllten Stoffobjekten der Bühnenbildnerin Sandra E. Blatterer verwendet, deren Bewegungen manchmal sehr unvorhersehbar waren. Die Stoffe stehen für Freude, Ekstase und für Kontrollverlust. Es war für mich während der Schaffensphase eine echte Offenbarung, dieses Element zu haben, das größer ist als man selbst und das man nicht vollständig kontrollieren kann. Sozusagen ein Chaos-Element in beiden Stücken, etwas, das ich akzeptieren und umarmen musste. Insgesamt gibt es also in gewisser Weise eine strenge Struktur, aber innerhalb dieser Struktur gibt es eine Menge Freiheit, und Dinge können auf verschiedene Arten von Begegnung geschehen.

TB: Das spricht mich wirklich an, denn ich mag die Idee, ein gemeinsames mentales Modell eines Spiels zu haben, in dem die Interpretation aber dem Einzelnen überlassen bleibt, denn letztendlich geht es wohl darum, sich als Individuum auszudrücken. Ich möchte niemandem genau vorschreiben, was er zu tun hat. Ja, wir haben ein gemeinsames Ziel, aber ich vertraue darauf, dass ihr euren persönlichen Weg findet, um uns dorthin zu bringen. Und wenn wir über den Austausch von mentalen Modellen sprechen: in Bezug auf Muster und Formationen mag ich auch Regelbrecher. Manchmal machen Menschen einen Umweg, sie gehen ihren eigenen Weg und das kann schlecht sein. Es kann aber auch richtig gut sein. Es kann spektakulär sein. Wenn wirklich radikale kreative Elemente im Spiel sind, kann das überraschend und auch sehr lohnend sein. Außerdem ist Fußball sehr fließend, sehr bedingungsabhängig. Es kann am Wetter liegen, es kann an den Gegnern liegen. Auf einem Fußballplatz passieren ständig unvorhersehbare Dinge. Ein Teil des Spiels besteht darin, eine sehr klare Vorstellung davon zu haben, was wir tun wollen. Aber dann wiederum müssen wir spontan auf alles reagieren, womit wir konfrontiert werden. Es geht also teilweise um Mustererkennung und darum, einen vorgegebenen Plan zu haben. Und dann geht es auch darum, intuitiv und spontan zu sein.

MK: Ich arbeite auch mit einer offenen Partitur, das heißt, die Schritte sind nicht festgelegt, alle müssen den anderen zuhören. Man weiß nicht, was die andere Person vorschlagen wird, man muss wirklich zuhören und reagieren. Es geht auch nicht um mich selbst. Es geht nicht darum, jetzt etwas zu performen, sondern um dieses innere Spiel des Zuhörens und Folgens.

TB: Ja, genau wie beim Fußball. Aber die Magie passiert, wenn man in der Lage ist, sich mit den Menschen um einen herum zu synchronisieren – das ist es, was wirklich begabte Spieler so besonders macht.

Was sind die größten Unterschiede zwischen Tanz und Fußball?

TB: Ich denke, ein großer Unterschied könnte sein, dass wir es mit einem Gegner zu tun haben. Wir versuchen also, etwas zu erschaffen, unsere eigene Choreografie zu haben. Aber es gibt immer jemanden, der versucht, das zu verhindern. Da kommt ein Element des Chaos ins Spiel, und das ist sehr destruktiv – plötzlich schlägt die Realität zu, und wir müssen trotzdem Dinge umsetzen. Und was mich am Fußball wirklich stört, ist, dass man sich zu sehr auf das Ergebnis konzentriert. Es gibt noch etwas anderes am Spiel, das nicht greifbar ist. Du willst auf den Platz gehen und kreativ sein, dich ausdrücken, etwas leisten. Das Spiel gewinnen, ja, aber am liebsten mit Stil, mit der richtigen Absicht, mit einem Element der Schönheit.

MK: Und dann bin ich sehr damit beschäftigt, wie viele Leute Sport und wie viele Leute Kunst verfolgen. Ich meine, es ist wohl klar warum Sport so attraktiv ist. Ich bin neugierig, wie man etwas von dieser Anziehungskraft in die Kunst bringen kann. Vielleicht nicht den Wettbewerb, aber die Euphorie oder das Gefühl, Teil von etwas zu sein, auch wenn ich nicht auf der Bühne stehe oder nicht die Person bin, die spielt. Wie lässt sich diese Verbindung herstellen, diese Empathie haben, die man als Zuschauer*in empfindet? In meiner Arbeit versuchen wir, dieses gewisse Etwas zu erreichen, dieses Zugehörigkeitsgefühl, auch als Publikum, als Gruppe. In letzter Zeit habe ich mich in meiner Arbeit damit beschäftigt, den Leuten das Gefühl zu geben, dass sie zu etwas dazugehören ...

TB: Ich denke, es geht auch darum, sich selbst ein Ziel zu setzen. Im Männerfußball gibt es natürlich eine Menge Geld. Aber es gibt so viele Spieler. Nur ein kleiner Prozentsatz verdient wirklich Geld, und all die anderen stecken genauso viel hinein und bekommen nichts. Und bei Künstler*innen ist es wohl noch schlimmer. Man kann vielleicht professionell arbeiten, aber es könnte sein, dass man alles in die eigene Kunst steckt und finanziell nicht viel zurückbekommt. Vielleicht hat man Glück ... aber selbst wenn nicht, gibt es immer noch eine Million Gründe, das zu tun was man tut. Und das finde ich auch wunderbar.

Milla, du arbeitest gerade an einem weiteren Stück, das sich in gewisser Weise mit Sport beschäftigt – kannst du uns mehr darüber erzählen?

MK: Es ist eine weitere Solo-/Gruppenstück-Reihe, an der ich gerade arbeite. Es geht um das Thema Ausdauer, aber in einem etwas weiteren Sinne, also nicht nur um den körperlichen sondern auch den mentalen Ausdaueraspekt. Ich denke, es hat auch mit dem aktuellen Zustand der Welt zu tun und mit den Dingen, die um uns herum passieren, wie man in diesen Zeiten widerstandsfähig sein muss, und dann gibt es natürlich auch noch den physischen Aspekt von allem.

 

Folgt uns