Ausgabe September-Oktober 2024

"Wir brennen für den Tanz"

Korinna und Jörg Nawrotzky. Foto: Peter Pleyer

Korinna und Jörg Nawrotzky kennt in der Berliner Tanzszene annähernd jede*r, zumindest vom Sehen: Die Frau mit dem farbig-leuchtenden Kleidungsstil und der Mann mit dem blonden Vokuhila sind eine feste Instanz und wahrscheinlich die zwei treusten und hingebungsvollsten Zuschauer*innen, die die Tanzszene hat. Seit dem Fall der Mauer haben sie in Berlin mehr als 6000 Tanzstücke gesehen und werden bis heute nicht müde, jede Woche Tanz zu schauen. Wir sprechen über Highlights und Must Sees, über Barrierefreiheit in der Berliner Tanzlandschaft und über ihre anhaltende Liebe zum Tanz.

Interview: Johanna Withelm

 

Korinna und Jörg schlagen für unser Treffen das Café St. Oberholz in Mitte vor. Wir treffen uns in der oberen Etage an einem schwülheißen Spätnachmittag Ende Juni, es soll später noch gewittern. Ich komme zu früh, aber Korinna und Jörg sind schon vor mir da. Bevor wir das Interview beginnen, stoßen wir erstmal mit einem Glas Weißwein an.

 

Woher kommt Euer großes Interesse für den Tanz?

Korinna: Kurz nach der Wende hat alles angefangen. Unser erstes Tanzstück haben wir in der Osloer Fabrik im Wedding gesehen, das war im Winter 1990.
Jörg: Und das war ein gutes Tanzstück!
Korinna: Von einer japanischen Butohgruppe. Bevor wir hingegangen sind, hatte ich erstmal dort angerufen und gefragt, was Tanztheater ist. Also was das nun sein soll, Tanz oder Theater? Vorher kannten wir nur Revuen aus dem Friedrichstadtpalast. Und irgendwie hat das Stück dann einen bleibenden Eindruck hinterlassen, sonst würden wir das ja nicht bis heute machen (lacht).


Wieviele Vorstellungen guckt Ihr Euch pro Woche an?
J: Wir gehen jeden zweiten Tag.
K: Aber die vorige Woche war ein Rekord, da haben wir fünf Stücke gesehen, denn es war Sounddance Festival im Dock 11. Plus Zahnarzt hatten wir auch noch in der Woche! Da mussten sogar die alten Eltern ausgeladen werden, damit wir das alles schaffen. Die Planung machen wir immer donnerstags, da wird die Morgenpost gekauft mit der Bühnenbeilage – obwohl die immer teurer wird und immer weniger Inhalt hat. Online ist ja auch eine schöne Ergänzung, aber nur online das liegt uns nicht, vielleicht sind wir da auch schon zu alt für.


Ich werfe ein, dass mein Herz auch noch für Printmedien schlägt. Wir sprechen über unser Alter, Korinna ist 59 und Jörg 63 Jahre alt. Als ich erzähle, dass ich 41 Jahre alt bin, sagt Korinna, ich hätte mich ganz gut gehalten. Wir alle lachen.


Welche Stücke haben Euch in letzter Zeit besonders gefallen?
K: In diesem Frühling hat uns besonders gut A/way Home / Saudade de ti von Carlos Aller & Cecilia Bartolino und In-Side Sense von Cooperativa Maura Morales gefallen, beides haben wir im Dock 11 gesehen. Im Juni haben wir Evolving Waves von Macarena Ruiz & Angelo Olivares im ACUD Theater gesehen, das war richtig toll. Und Hundstage von Enad Marouf in den Sophiensælen mochten wir auch sehr. Generell mögen wir es, wenn klassische und moderne Elemente aufeinandertreffen. Am besten möglichst viel Körper und Bewegung und möglichst wenig Text.


Gibt es Companies und Künstler*innen, die Ihr schon lange schätzt?
K: Viele, man wird ja mit vielen älter! Beim Sounddance Festival haben wir Laborgras zu ihrem 30. Jubiläum wiedergesehen, das war schön, mit Anstoßen und leckeren Brezeln und Kümmelstangen. Das vermissen wir übrigens sehr, die Premieren-Buffets die es vor der Coronapandemie immer gab. Ansonsten verfolgen wir Christoph Winkler schon lange oder Angela Schubot oder Toula Limnaios. Und den Ingo Reulecke kennen wir ja auch schon ewig. Aber von dem haben wir jetzt so lange schon nichts mehr gesehen, wir machen uns schon langsam Sorgen! Wir freuen uns generell immer, wenn wir Künstler*innen sehen, die wir schon lange kennen. Aber wir sind auch offen für Neues.


Schaut Ihr manche Stücke bei Wiederaufnahmen auch ein zweites Mal an?
K: Manchmal sehen wir versehentlich was doppelt, weil wir uns nicht mehr richtig erinnern. Ist uns letztens im Dock 11 passiert, das war das Solo getanzt von ... (überlegt)
J: Die Julek Kreutzer hat da getanzt.
K: Ah ja genau, und das haben wir wirklich erst nicht gemerkt, und dann kam uns aber der Anfang mit dem Schlagzeug so bekannt vor.
J: Wir hatten das Stück nämlich schonmal in den Sophiensælen gesehen (Anm. d. Red.: Restraint von Lina Gomez). Eigentlich versuchen wir aber, alles nur einmal zu sehen.


Hochgerechnet haben Korinna und Jörg seit 1990 bis heute ungefähr 6.000 Stücke gesehen. Seit 1997 dokumentieren sie ihre Vorstellungsbesuche in Notizbüchern, mittlerweile haben sie zwanzig Bücher vollgeschrieben. Außerdem sammeln sie Abendprogramme, Eintrittskarten und während der Pandemie sogar die Ticketbändchen.


Wie genau dokumentiert Ihr Eure Vorstellungsbesuche?
K: Eine Kerze und ein Gläschen Wein oder Schnäpschen nach der Vorstellung gehören immer dazu, egal wie spät es ist! Und dann schreibt Jörg ins Notizbuch.
J: Ich schreibe immer das Datum, den Stücktitel, die Choreograf*in und die Spielstätte auf.
K: Und dann gibt es immer eine Bewertung mit einem Pfeil. Nach oben heißt gut, quer heißt so la la, selten gibt es auch mal einen Pfeil nach unten, wenn wir denken Nee das war nix. Aber wir drücken da auch immer ein Auge zu (lacht).


Ihr habt also ein eigenes Tanzarchiv in Eurer Wohnung.
K: Ja und das könnte ein bisschen besser geordnet sein. Es ist uns auch schon manchmal runtergekommen, und dann war Katastrophe angesagt (lacht). Man hat uns auch schon oft gesagt, dass wir darauf aufpassen müssen, nicht dass es irgendwann unter die Räder gerät.
J: Wir hatten uns auch schonmal überlegt, das Archiv irgendwann der Tanzszene zu übergeben.
K: Aber bis jetzt hängen wir noch daran.


Welche Spielstätten besucht Ihr am Häufigsten?
K: Unser Haupthaus ist das Dock 11, da kommen wir auch am besten hin, wir wohnen in Marzahn-Hellersdorf. Danach kommen die Sophiensæle würd’ ich sagen. Dann die HAU Häuser ...
J: Von der Erreichbarkeit sind die Uferstudios am Schlimmsten. Weil der Weg vom U°Bahnhof weit und das Gelände selbst auch weitläufig ist. Wenn z.B. etwas im Studio 1 stattfindet und Korinna auf Toilette gehen muss, ist das ziemlich mühsam.
K: Das HAU3 ist in der Hinsicht eigentlich noch schlimmer. Der U-Bahnhof hat keinen Aufzug, da muss ich dann irgendwie die Treppen hochkommen. Aber das Gute ist, dass sie uns da im Theater mittlerweile mit dem Lastenaufzug hochbringen. Ansonsten gehen wir auch oft in den Acker Stadt Palast, da ist es schön lauschig. Nach Potsdam fahren wir sogar auch manchmal, aber das machen wir nur, wenn hier in Berlin nichts los ist. Außerdem gehen wir gerne ins ACUD-Theater, ich mag die kleine Bühne. Leider ist da aber seit ungefähr einem Jahr der Fahrstuhl kaputt. Jetzt soll er aber endlich repariert werden, haben sie uns gesagt.


Hat sich Eurer Meinung nach bezüglich Barrierefreiheit in den letzten Jahren etwas getan?
J: Ja es hat sich schon was getan. Aber es müsste noch viel mehr getan werden!
K: In einigen Häusern gibt es ja jetzt ein Early Boarding. Wenn sich da alle anschließen würden, dann hätten wir was erreicht. Und dann gibt es ja heute auch viele Stücke, in denen Behinderung thematisiert wird, z.B. in der Tanzfabrik und den Sophiensælen, wobei ich sagen muss, dass es in den Sophiensælen vielleicht ein bißchen sehr viel geworden ist. Das haben auch andere Leute schon zu uns gesagt, dass das manchmal nervt. Und die Leute, die – wie ich – selbst betro¢en sind, wollen das ja teilweise auch nicht. Man will ja z.B. nicht immer die eigene Behinderung thematisiert sehen oder darauf angesprochen werden. Das ist dann gut gemeint aber manchmal übers Ziel hinausgeschossen.
J: Was für uns auch nicht so funktioniert, sind englische Texte. Schade wenn man alles nur brockenweise versteht.
K: Im tanzraumberlin Magazin gibt es ja auch immer mehr englische Texte, das ist auch manchmal schade.


Ich sage, dass ich es auch schade finde, nicht alle Artikel zweisprachig abdrucken zu können, was Platzgründe und finanzielle Gründe hat, aber dass ich alle englischen Artikel für die Online- Ausgabe auf Deutsch übersetze. Kurz darauf werden wir von der Kellnerin (auch noch auf Englisch) gebeten, zu gehen, da sie schließen. Der Himmel verdunkelt sich, wir trinken aus.


Woher nehmt Ihr eigentlich Eure Lust am Zuschauen nach all den Jahren?
K: Es gehört einfach zu uns. Man kann schon sagen, dass die Tanzszene auf gewisse Art unsere Familie ist. Als wegen der Coronapandemie alles geschlossen hatte, ging es uns ganz schlecht.


Wir verabschieden uns, ich fahre mit dem Fahrrad nach Neukölln und schaœffe es gerade noch, dem Gewitter zu entkommen. Ein paar Tage später bekomme ich eine Email von Korinna:


Liebe Johanna,
leider sind wir brutalst in den Regen gekommen! Wohin musstest Du eigentlich?
Folgendes möchten wir noch ergänzen: Plätze gibt es leider immer seltener. Manche sagen, wir müssten für Berlin eine Dauerkarte haben. Und wir wollten noch erwähnen, dass wir themenbezogen höchst selten auch mal ins Musical oder ins Sprechtheater gehen. Wir brennen aber für
den Tanz! Tschüss und Gruß aus Marzahn!
Korinna und Jörg

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