edition Mai-Juni 2024

Wir brauchen einen Tanz 2.0

Raphael Moussa Hillebrand, Foto: Gianni Addi

Wer entscheidet eigentlich, welche Tanzformen als zeitgenössisch gelten und welche nicht? Die Spiel- und Produktionsstätte Tanzkomplizen hat drei Expert*innen eingeladen, ihre Gedanken dazu in Form eines Essays beizusteuern, und in einem Panel im Rahmen des Festivals ALLES TANZT im Mai 2024 miteinander ins Gespräch zu kommen. tanzraumberlin spricht mit den Tänzer*innen und Choreograf*innen Sasha Amaya und Raphael Moussa Hillebrand über Hürden und Ausschlüsse im zeitgenössischen Kanon und über Utopien des Zeitgenössischen. Wir treffen uns an einem sonnigen Morgen im Podewil.

INTERVIEW: Johanna Withelm

Die Definition des Begriffs zeitgenössisch ist laut Duden recht simpel: „von einem Zeitgenossen stammend, im gleichen historischen Zeitraum entstanden, heutig, gegenwärtig“. Wenn die Antwort darauf, was zeitgenössischer Tanz ist, scheinbar so einfach ist, warum gibt es momentan so viele Debatten darüber?
Raphael Moussa Hillebrand: Dass wir heute so viele Debatten über den Begriff zeitgenössisch haben, zeigt, dass die Anwendung dieses Begriffs in einem Widerspruch oder mindestens in einem Spannungsfeld zu der Definition im Duden steht. Wir begreifen nicht jeden Tanz, der heute stattfindet, als zeitgenössischen Tanz, sondern assoziieren ihn mit einer westlichen akademischen Tradition. Damit kreieren wir Ausschlüsse. In den letzten Jahren haben wir mit dem antirassistischen und feministischen Freiheitskampf als Gesellschaft eine Transformation durchgemacht, uns wird bewusst: Wir sagen zwar immer, dass alle zu jeder Tanzveranstaltung eingeladen sind, aber irgendwie kommen gar nicht alle.
Sasha Amaya: Ich kann mit dem, was Raphael sagt, mitgehen. Ich denke, der Begriff zeitgenössisch erscheint an seiner Oberfläche wie ein ganzes Universum. Aber das ist natürlich nicht der Fall. Und es ist irgendwie lustig, dass dieser Begriff, der so weit gefasst zu sein scheint, einen sehr direkten Bezug und einen geografischen Schwerpunkt hat. Das Schwierige ist, dass wir nicht nur von verschiedenen Bewegungen und Ästhetiken, sondern auch von unterschiedlicher Wertschätzung sprechen. Ich sehe oft Arbeiten mit einer „diversen“ Ästhetik, die wir, wenn sie in einem europäischen zeitgenössischen Rahmen präsentiert werden, als „gute“ zeitgenössische Arbeiten ansehen. Wenn jedoch grundlegende Denkweisen über Timing, Bewegung und Dramaturgie wirklich anders sind, dann erkennen wir sie oft nicht als wertvolle zeitgenössische Arbeiten an.


Definiert ihr euch selbst als zeitgenössische Tänzer*innen?
SA: Es kommt darauf an, von wem und wo ich das gefragt werde. Aber im Grunde sehe ich mich schlicht als Tänzerin und Choreografin, auch weil ich keine Europäerin bin und andere Traditionen habe.
RMA: Die Frage ist auch, ob die eigene Arbeit zum zeitgenössischen Kanon passt. Ich glaube der Kanon beinhaltet vermutlich nicht den Battle of the Year (lacht). Mit diesem Tanzwettbewerb, der seit den 90er Jahren in Deutschland regelmäßig stattfindet, habe ich mich jedenfalls immer sehr identifiziert. Aber da der nicht Teil des Kanons ist, habe ich mich eher nicht als zeitgenössischer Tänzer identifiziert.

Sasha, du hast dich in deinem 2020 uraufgeführten Stück Sarabande mit einem Barocktanz beschäftigt, also mit einer vergangenen Tanzform, die eng an die Entstehung des westlichen Kanons geknüpft ist. Was hat Dich daran interessiert?
SA: Mein Interesse für den Barock und die ersten Schritte von Sarabande reichen vor meine Ankunft in Europa zurück. Daher ist auch die Vorstellung, dass mein Aufenthalt hier diese Arbeit angestoßen hat, eine sehr eurozentrische Annahme. Als ich nach Deutschland kam, wurde ich anders behandelt. Die Kurator*innen interessierten sich für mein kulturelles Erbe – was auch immer ich tat, es wurde in diesem Kontext betrachtet. Ich habe mich aus Freude aber auch aus Widerstand entschieden, an einer Trilogie über die dominante europäische Kunst- und Tanzgeschichte zu arbeiten: Diese Geschichte haben wir gemeinsam – es ist eure Kultur, die auch ich lernen musste – und doch wird es als nicht angemessen gesehen, dass ich diese Tänze praktiziere. Mit diesen Erfahrungen hatte ich das Gefühl, dass sich der Inhalt dessen, was erlaubt war, heute zwar geändert hat, nicht aber die Strukturen, also, wer wem sagt, was er*sie machen soll, und das war für mich immer noch strukturell problematisch. Außerdem liebe ich Barockmusik! Es war also ein reizvolles Projekt für mich, in dem ich das Material ernst genommen habe, mich aber dagegen gewehrt habe, mich auf die Weise „anders“ zu machen, die von mir erwartet wird.

Raphael, Du bist tänzerisch im Bereich Hip-Hop sozialisiert. Mein Eindruck ist, dass die Urban Dance Community momentan eine Art Emanzipationsprozess durchmacht und sich mehr Anerkennung erkämpft.
RMA: Hip-Hop hat sich ja aus dem afroamerikanischen Tanz entwickelt und ist geprägt von z.B. Jazz, Lindy Hop und Funk. Wenn wir von Urban Dance sprechen, meinen wir letztlich afrodiasporische bzw. Schwarze Tänze, die in subkulturellen Kontexten und aus einer Überlebensstrategie heraus entstanden sind und schon immer Ausschlüsse erfahren haben. Für mich war es unglaublich, festzustellen, dass sowohl Breaking als auch Judson Dance Theater und Ballroom Culture bzw. Voguing gleichzeitig in den 70er Jahren in New York entstanden sind, ohne miteinander in Berührung zu kommen. Dabei würden sich alle Strömungen als offen und einladend verstehen. Wir brauchen keine böse Absicht, um Ausschlüsse zu reproduzieren, sondern wir brauchen gute Absichten, um Ausschlüsse abzubauen.


Viele Vertreter*innen des Urban Dance wollen sich vom Hobbytanz-Image befreien, Häuser und Festivals für zeitgenössischen Tanz laden vermehrt Stücke aus diesem Bereich ein. Ist das Ziel, alle auf die große Bühne zu holen?
RMA: Es geht natürlich nicht darum, alles auf der großen Bühne zu machen, sondern den Menschen, die schon immer auf die große Bühne wollten, nicht den Zutritt zu verwehren, wenn sie nicht an der richtigen Stelle studiert haben. Warum werde ich mit dem Deutschen Tanzpreis geehrt, bekomme aber von keiner staatlichen Institution in Berlin Job-Angebote, obwohl ich mich sehr gerne aus der Freien Szene verabschieden würde, um an einem großen Haus angestellt zu sein? Weil meine Kunstform in deren Augen weniger wert ist. Aber wenn sich unser Staat in erster Linie über die Menschenwürde definiert und darüber, dass alle teilhaben, wieso definiert sich die Kunst an staatlichen Häusern dann vor allem über Whiteness?

SA: Ich glaube nicht, dass jede Form des Tanzens ein Job sein muss, aber Geld und Jobs sind eben wichtig, und die Art und Weise, wie Ressourcen verteilt werden, ist grundlegend wichtig für Wertschätzung und Respekt. Die Frage ist auch, ob es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, verschiedene Tanzkulturen zu unterstützen, etwa in Bezug auf Förderstrukturen und Antragsverfahren, die derzeit viele Menschen nicht nur auf akademischer, sondern beispielsweise auch auf soziokultureller Ebene ausschließen. Es müssen Spielstättenbescheinigungen von Kurator*innen eingeholt werden, was für viele, die sich mit den sozialen Codes der Kunstwelt und mit der Bereitstellung von Räumen für Zusammenkünfte nicht wohl fühlen, eine Hürde darstellt. Auf konzeptioneller Ebene denke ich, dass wir uns in einer interessanten Phase befinden, in der wir uns sowohl im Bewegungsvokabular als auch in unseren Texten von den Bezügen lösen wollen, die unsere Erzählungen über den Tanz so lange dominiert haben. Und dennoch suchen wir nach einer gemeinsamen Sprache – oder zumindest nach Werkzeugen, um uns zu verstehen.
RMA: Das Schlagwort Diversität wird ja seit ein paar Jahren auf unsere bestehenden Institutionen angewendet, um dort Zugänge zu schaffen, was eine wichtige Sache ist. Doch anstatt den Urban Dance ans Theater zu holen, könnten wir zum Beispiel der Hip-Hop-Community ein eigenes Theater geben, einen Raum, in dem sie selbst bestimmen kann. So würde man dem Tanz, der so viel für den antirassistischen Kampf und für die Gesellschaft geleistet hat, aber bisher überwiegend prekär in Jugendfreizeitheimen stattfindet, einen angemessenen öffentlich finanzierten Raum geben.


Was braucht es eurer Meinung nach für eine neue oder zukünftige Definition des Zeitgenössischen?
RMA: Wir brauchen eine explizite Anerkennung aller Tanzformen, die im Jetzt stattfinden. Ich glaube, dass Tanzformen, die so lange Ausschlüsse erfahren haben, auch eine andere Form von staatlicher Unterstützung brauchen, um Gleichstellung herstellen zu können. Es geht auch darum, anzuerkennen, dass wir in einem kapitalistischen, rassistischen Patriarchat leben, aus dem heraus die Kunst entsteht. Den Großteil der Kunstförderung sehe ich in machterhaltender Kunst, die überhaupt keine machtkritischen Fragen stellt. Das muss sich ändern. Wir brauchen einen zeitgenössischen Tanz 2.0. Es wird Zeit für eine neue Ära. Darauf gehe ich in meinem Text für Tanzkomplizen genauer ein.
SA: Der Tanz ist etwas Besonderes, weil er eine innerliche, emotionale und gemeinsame Erfahrung ist, die mit so vielen Dingen verbunden ist, über die wir nachdenken, uns Sorgen machen und Wünsche formulieren. Ich denke, dass das Phänomen der gleichzeitigen, gemeinsamen Erfahrung noch wichtiger werden wird inmitten all der Verwirrung und technischen Manipulation darüber was wahr und was unwahr ist. Tanz ist ein Raum, in dem wir gemeinsam reale Dinge erleben und gemeinsame Erinnerungen schaffen können, und er wird auch in Zukunft von großem Wert sein. Ich glaube nicht, dass nur der zeitgenössische Tanz das leisten kann, aber der Tanz kann das leisten und muss als Raum für diese Leistung in der Gegenwart geschätzt werden.


Die Essays von Sasha Amaya, Raphael Moussa Hillebrand
sowie Johannes Odenthal sind auf der Website von Tanzkomplizen veröffentlicht:
www.tanzkomplizen.de/wem-gehoert-die-tanz-gegenwart/


PANEL Tanztalk: Wem gehört die (Tanz-)Gegenwart?
○ Mit Sasha Amaya, Raphael Moussa Hillebrand,
Johannes Odenthal. Moderation: Nora Amin
○ 29. Mai 2024, TANZKOMPLIZEN im Podewil
www.tanzkomplizen.de

 

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